Geistliche Schriftauslegung gilt im akademischen Bereich oftmals als
suspekt und wird zumindest im deutschen Sprachraum wenig beachtet. Andererseits ist in den letzten Jahrzehnten das Bewusstsein gewachsen, dass eine Beschränkung auf
historisch-kritische Methoden der Schriftauslegung einseitig sein und sogar vom Lesen der Bibel abschrecken kann.
Der Band dokumentiert die Beiträge einer Tagung zur Standortbestimmung geistlicher Schriftauslegung. Er bildet den Auftakt einer Reihe, die markante Beispiele geistlicher Lektüre der Schrift aus verschiedenen Epochen der Geschichte vorstellt und sie in ein Verhältnis zur historisch-kritischen Exegese setzt.
Der "Dies academicus" der PTH Münster beschäftigte sich im Dezember 2022 mit Transformation. Christlicher Glaube bedeutet Transformation, "ist Leben in und am Übergang". Somit geht es bei christlicher Transformation um eine spirituelle Grunddynamik. Mein Beitrag zu diesem Tagungsband beschäftigt sich mit dem frühchristlichen Theologen Justin dem Märtyrer (2. Jh), der in der Begegnung und Auseinandersetzung mit philosophischen Lehrern schließlich zu einer grundlegenden Sinnesänderung kommt.
Diese Sinnesänderung führt Justin zum Christentum, der Bibel und dem christlichen Gott und lässt ihn seine Berufung finden: Alle Menschen sollen zu den christlichen Lehren finden und sich nie mehr davon abwenden. Damit dieser Wunsch wahr wird, zieht er zunächst als Wanderprediger umher und gründet dann in Rom ein eigenes Lehrhaus. In beiden Rollen steht er Menschen Rede und Antwort über seinen Glauben, macht Werbung für das Christentum und die Wahrheit des christlichen Glaubens.
Justin tritt für ein anspruchsvolles Christentum ein, das sich an den Weisungen Jesu orientiert und im Einhalten seiner Weisungen konkret wird. Wirkliche Christinnen und Christen sind dem doppelten Dienst der Gottes- und Nächstenliebe verpflichtet, leben tief verbunden mit Gott und der sozialen Mitwelt. Ethik ist für die "Identitätsfindung und -bildung des jungen Christentums konstitutiv" (Jörg Ulrich). Ein bloßes Lippenbekenntnis zählt für Justin nicht viel.
Auch wenn wir im 21. Jh. Justins Gewissheit nicht mehr so ohne Weiteres teilen können, es gäbe nichts Besseres als Jesus Christus, das Christentum sei die allein verlässliche und Nutzen bringende Philosophie und böte die Erkenntnis der Wahrheit, sind seine Überlegungen ungemein anregend. Sie ermuntern zur Sinnesänderung, laden dazu ein, lieb gewonnene Überzeugungen, Einstellungen und Vorstellungen über das Christentum auf den Prüfstand zu stellen und sich wieder neu darauf zu besinnen, worauf es im Christentum eigentlich ankommt. Und sie fordern dazu heraus, mit unserer Gesellschaft und Welt in Kontakt zu treten und nicht nur in der eigenen Blase Nabelschau zu betreiben. Denn nur dann kann der christliche Glaube seine transformative Kraft entfalten
Mit dem Begriff der Offenbarung widmet sich mein neuster Artikel im Themenheft "Offenbarung" der dominikanischen Zeitschrift für Glauben und Gesellschaft "Wort und Antwort" (4/2023) einem Thema, bei dem in der religionspädagogischen Szene ein seltsames Schweigen herrscht. Möglicherweise resultiert dieses Schweigen aus dem vermeintlichen Glaubensverlust junger Menschen, der die Rede von Offenbarung Gottes schwierig und zum absurden Gedankenspiel macht. Gleichwohl werden religiöse Bildungsprozesse auf eine Auseinandersetzung mit dem Thema Offenbarung nicht verzichten können, bringt Offenbarung doch eine grundlegend christliche Überzeugung zum Ausdruck.
Nach einem exemplarischen Blick in die Thematisierung des Offenbarungsthemas in Religionsbüchern und religionspädagogischen Arbeitsmaterialien, ist ein Lebensweltbezug nur sehr selten anzutreffen. Zudem gerät Schule als säkularer Lernort viel zu selten in den Blick. Dies erweckt den Eindruck, dass es im Religionsunterricht vorrangig um tradierte Glaubensinhalte geht und die eigenen Konstruktionen der Schülerinnen und Schüler zum Thema der Offenbarung Gottes dahinter zurückstehen. Stimmt dieser Eindruck, wäre dem inkarnationstheologisch vehement zu widersprechen. Gerade ein inkarnationstheologisch denkender Religionsunterricht eröffnet nämlich ein kommunikatives, dialogisches Geschehen, das die Chance bietet, dass der Religionsunterricht am säkularen Lernort Schule ein guter Ort für Offenbarung ist.
Mein Beitrag
zum Tagungsband ist der Artikel "Die Schrift geistlich verstehen. Schriftlesung und Schriftverständnis bei Origenes". In diesem Artikel stelle ich die Schrifthermeneutik des Origenes vor, durch
die erstmals die Unterscheidung verschiedener "Schriftsinne" im Christentum etabliert wurde. Auf der Voraussetzung der Inspiration der Schrift entwickelt Origenes für unterschiedliche Adressaten
verschiedene Deutungsebenen der Schrift. Seine Hermeneutik war für Jahrhunderte prägend. Auch wenn seine nicht selten komplizierten Auslegungen biblischer Texte für heutige Leserinnen und
Leser nur schwer nachvollziehbar sein mögen, bin ich davon überzeugt, dass sie auch heute das Desiderat einer Ergänzung der historisch-kritischen Methode durch geistliche Schriftauslegung
befruchten.
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